Art Magazin 07/20

Sich den Abgründen stellen

von Annekathrin Kohout

Sebastian Jung schaut hin, auch wenn ihm das Dargebotene missfällt. Sein Hauptthema ist die Darstellbarkeit gesellschaftlicher Realität – und gerade ihrer abgründigen Erscheinungen: ‚besorgte Bürger‘ auf einer Pegida-Demo, einsame Männer bei einer Erotikmesse, gleichgültige Menschen im Supermarkt. Jung geht an all diese Orte. Unermüdlich zeichnet er, was er dort sieht, schreibt mit, was er hört. Er hält Menschen und Situationen fest, die in vielen Milieus und Medien unsichtbar geworden sind oder die im Reality-TV bis zur Unkenntlichkeit karikiert werden.

2014 fuhr Jung nach München und verfolgte einen Tag lang zeichnend den NSU-Prozess. Aber es handelt sich dabei nicht nur um eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, sondern auch mit seiner eigenen Herkunft, ist er doch in derselben Jenaer Plattenbausiedlung aufgewachsen, in der sich in den 90er Jahren Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt radikalisierten. Das ist repräsentativ für seine Herangehensweise: Über individuelle Erfahrungen und Gefühle werden die großen gesellschaftspolitischen Themen verhandelt.

In den letzten Jahren geriet die Auseinandersetzung mit Ostdeutschland in den Fokus von Jungs Arbeiten, wohl als Folge der Wahlerfolge der AfD und der damit verbundenen Rede vom ‚braunen Osten‘. In zahlreichen Buchprojekten mit Think Tanks bestehend aus wichtigen Stimmen der Gegenwart wie Lady Bitch Ray oder Sibylle Berg, aber auch in ortsspezifischen Arbeiten in ostdeutschen Städten wie Zeitz und Chemnitz, die besonders stark von Abwanderung und kulturellem Verfall geprägt sind, widmet sich Jung auf erstaunlich klare Weise den komplexesten Fragen der deutschen Gegenwart: Warum ist die AfD so groß geworden? Fühlen sich die Ostdeutschen als ‚Wendeverlierer‘? Und was zum Teufel ist eigentlich dieses Abendland?

Wenn Sebastian Jung unsere Gegenwart dokumentiert, dann immer unvoreingenommen und mit dem Ziel, auch die Widersprüche und Gegensätze sichtbar zu machen. Diese Offenheit gelingt ihm nur durch Empathie – auch jenen Menschen gegenüber, deren Ansichten und Haltungen er privat nicht teilt. In seiner Kunst bewertet und verurteilt er also nicht, denn, so Jung: „Künstlerische Autonomie gibt es ja auch deshalb, um den Künstlern zu ermöglichen, sich ihren eigenen Abgründen zu stellen – und zwar damit die Gesellschaft diese dann anhand des Kunstwerkes verhandeln kann! “ Das ist derzeit eine ausgesprochen singuläre Position.