Billboard (Flagge)

Standort: Stadtbalkon Jena-Winzerla

Termin: 3. Oktober bis 7. November 2021

Ein Projekt von JenaKultur mit freundlicher Unterstützung des Kommunalservice Jena sowie des Ortsteilbürgermeisters und Stadtteilbüros Winzerla.

Sebastian Jung: Billboard (Flagge)

Künstlerische Intervention anlässlich des Tags der Deutschen Einheit 2021

Auf dem Stadtbalkon Winzerla oberhalb des Flößerbrunnens steht eine große aufgestelzte Holztafel. Auf den ersten Blick wirkt sie wie eine Reklametafel, aber sie ist nackt und trägt keine Werbung. Sie hat das Format einer Flagge und in der Mitte ein kreisrundes Loch. Sebastian Jungs Billboard vereint ein einfaches Material mit einer einfachen Form, doch beide sind mehrdeutig und entfalten im Zusammenspiel eine komplexe Sinnstruktur.

In der Wendezeit schnitten Bürger*innen aus DDR-Staatsflaggen das Emblem mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz heraus und schwenkten die durchlöcherte schwarz-rot-goldene Fahne. Die DDR wurde symbolisch ausgelöscht und der Wunsch nach Zugehörigkeit zur Bundesrepublik auf nationalistische Weise zum Ausdruck gebracht. Das kreisrunde Loch in der Flagge stand für den Umbruch in ein neues Gesellschaftssystem, für große Hoffnungen und eine ungewisse Zukunft.

Das Loch in der Holztafel erinnert an diese Umbruchszeit, allerdings ist es größer als das DDR-Emblem: Sein Format verweist auf eine andere deutsche Flagge, in deren Zentrum vor kreisrundem weißem Grund das Hakenkreuz stand. Das Loch thematisiert also auch den Umgang mit dem Nationalsozialismus – jener verbrecherischen Phase deutscher Geschichte, die von den meisten Deutschen erst bejubelt und nachher angeblich nie gewollt worden ist. Statt sich selbstkritisch mit ihr auseinanderzusetzen, versuchte man, sie vergessen zu machen.

„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“ (William Faulkner) Heute ist Deutschland als demokratischer Rechtsstaat verfasst. Doch dieser hat bei seinem Auftrag, die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde aller zu schützen, versagt. Von den Morden des rechtsterroristischen NSU bis zu den rassistischen und antisemitischen Anschlägen in Hanau und Halle zieht sich eine Blutspur rechter Gewalt durch seine Geschichte. Viele schauen weg oder verharmlosen sie, doch durch Ignorieren ist sie nicht aus der Welt zu schaffen – im Gegenteil: Antidemokratische Haltungen, Rassismus und rechte Gewalt nehmen zu. Das Loch in der Holztafel steht auch für das Ausblenden dieser realen Bedrohung, die doch höchst gegenwärtig ist.

Ebenso sprechend wie das Loch ist die große Holztafel, die es rahmt. Sie besteht aus OSB-Spanplatten, einem preiswerten und robusten Baumaterial, das vielfältig einsetzbar und auch für Heimwerker geeignet ist. Mit der Wende kamen OSB-Platten in großer Zahl in die neuen Bundesländer. Sie wurden zum bevorzugten Arbeitsmaterial für Umbau, Erneuerung und Erweiterung. Die OSB-Spanplatte ist insofern eine Allegorie des Umbaus der ehemaligen DDR durch die kleinen Leute. In Gestalt der Werbetafel steht sie zugleich für die glänzenden Versprechungen der schönen bunten Warenwelt im neuen kapitalistischen Deutschland.

Nach der Wende wurde die Zukunft rasch zur Gegenwart. Das Leben wurde freier, bunter und vielfältiger, zugleich komplizierter und widersprüchlicher. Manche Hoffnung wurde enttäuscht, manches Versprechen nicht eingehalten, die Diskrepanz zwischen Werbung und Wirklichkeit offensichtlich. Während die einen ihre Geschicke aktiv und kritisch in die Hand nehmen, wählen andere den leichten Weg und suchen Sündenböcke. Vorurteile, Hass, Ausgrenzung und gar Gewalt gegen Menschen anderer Herkunft, anderer Meinung oder anderer Orientierungen lösen aber keine Probleme, sondern führen in die Katastrophe.

Die Geschichte ist eine offene Baustelle. Menschliches Handeln – in der Politik wie im Alltagsleben – gestaltet sie täglich aufs Neue und gibt ihr eine Richtung. Jede und jeder ist daran beteiligt – und trägt daher auch Mitverantwortung. Insofern symbolisiert die OSB-Spanplatte in einem allgemeineren Sinne auch das konstruktive Mitgestalten einer menschenfreundlichen Gesellschaft, die Idee einer gleichberechtigten Beteiligung aller.

Durch ihre Aufstellung oberhalb des Flößerbrunnens befindet sich die große Tafel mit dem Loch in einer bereits bestehenden Sichtachse. Sie nimmt einen prominenten Platz in der Winzerlaer Wasserachse ein, einem mit Liebe zum Detail gestalteten harmonischen Ort, der zum Verweilen und Spielen einlädt und den Weg durch die Siedlung zur Freude macht. Mit sanftem Nachdruck, abstrakt und doch sprechend erinnert sie an die ganze deutsche Geschichte mit ihren Brüchen und Kontinuitäten. Sie weist darauf hin, dass Ignorieren und Ausblenden niemals eine Lösung ist und dass es in der Verantwortung von jeder und jedem Einzelnen liegt, ein freundliches und friedliches Miteinander von Menschen zu gestalten. Das Loch in der Spanplatte verweist auf den Hang zum Ausblenden unangenehmer Wahrheiten und öffnet zugleich den Blick in die Zukunft: auf die offene Frage, wohin unser aller Handeln führen wird.

Verena Krieger